Kapitel 11 | Untersuchungshaft im freien Fall
Die Bundesverfassung garantiert in Art. 10 Ziff. 2 der Bundesverfassung (BV) die individuelle Freiheit. Auch die Verfassung der Helvetischen Republik von 1798 hielt in Art. 5 fest: "Die individuelle Freiheit des Menschen ist unantastbar." Seit jeher verlangen allerdings die Behörden, die mit der Strafverfolgung von Personen, die Straftaten begangen haben, beauftragt sind, dass sie diesen die Freiheit entziehen können. Drei Gründe können angeführt werden, die diese rechtfertigen, a) nämlich die Gefahr der Flucht, b) die der Kollusion oder Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung, c) die Gefährdung anderer durch einen möglichen Rückfall. Gleichzeitig gilt im Rechtsstaat die Unschuldsvermutung, was bedeutet, dass die Anordnung von Untersuchungshaft im Rahmen eines Strafverfahrens nur mit äusserster Zurückhaltung auszusprechen ist und von kürzester Dauer sein soll. Seit neuestem besteht ein Proportionalitätsgebot zwischen der Dauer der Untersuchungshaft und der zu erwartenden freiheitsentziehenden Strafe. (Art. 212 Ziff. 3 StPO). Den Notwendigkeiten der Strafverfolgung wurde bereits in den Zeit der Helvetischen Republik Rechnung getragen, nämlich im zweiten Satz von Art. 5; auch in der heutigen Bundesverfassung wird in Art. 31 BV die Möglichkeit vorgesehen, dass die Freiheit entzogen werden kann, nämlich "in den vom Gesetz vorgesehenen Fäll und in nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise".
Im Gegensatz zu früheren kantonalen Strafprozessordnungen wird in der heutigen schweizerischen Strafprozessordnung zuerst das Prinzip, d.h. der Grundsatz festgehalten, dass "die beschuldigte Person (...) in Freiheit (bleibt)" (Art. 212 StPO). Falls eine freiheitsentziehende Zwangsmassnahme angeordnet wird, muss diese aufgehoben werden, sobald die vom Gesetz gegebenen Gründe nicht mehr anwendbar sind oder weniger einschränkende Massnahmen zum gleichen Ziel führen. Schliesslich gilt das Proportionalitätsgebot zwischen der Dauer der Untersuchungshaft und der zu erwartenden freiheitsentziehenden Strafe (Art. 212 Ziff. 3 StPO).
Die Bedingungen der Anordnung von Untersuchungshaft wurden in den letzten zwei Jahrhunderten immer präziser und einschränkender definiert, mit der Einführung der schweizerischen Strafprozessordnung harmonisiert und die Rechte des Beschuldigten ausgebaut.
Grundsätzlich muss gemäss Art. 221 StPO eine Person zuerst eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt werden und es muss eine der folgenden weiteren Bedingungen (Voraussetzungen) gegeben sein:
- Fluchtgefahr im Strafverfahren oder vor Strafantritt,
- Kollusionsgefahr
- Gefährdung anderer infolge von Rückfallgefahr oder Drohung.
Wird eine Person von der Polizei vorläufig festgenommen, so muss deren Inhaftierung von einem vom Bund oder vom Kanton ermächtigten Polizeiangehörigen innerhalb von 24 Stunden bestätigt werden. Eine Untersuchungshaft muss innerhalb von 48 Stunden nach einer Festnahme von der Staatsanwaltschaft beim Zwangsmassnahmengericht beantragt werden. Letzteres hat innerhalb von weiteren 48 Stunden zu entscheiden. Eine Periode angeordneter Untersuchungshaft dauert grundsätzlich 3 Monate, wobei eine Person jederzeit ein Haftentlassungsgesuch stellen kann. Die Verlängerung kann für längstens 3 Monate bewilligt werden, in Ausnahmefällen für längstens 6 Monate. (Art. 217, 219, 222, 227 StPO).
Da die Daten sehr unterschiedliche Grössenordnungen aufweisen, ist es vorteilhaft, diese in zwei Grafiken darzustellen, eine erste mit den Einweisungen, eine zweite mit den Beständen.
Die zwei Grafiken zeigen die Entwicklung der Insassenpopulation nach den zwei Kategorien U-Haft bzw. Vollzug (Abb. 11.2) und U-Häftlinge und Verurteilte (Abb. 11.3), jeweils für die Zeit von 1900 bis 1941 und erneut für die Zeit von 1984 (1990 für die U-Häftlinge).
Auffallend ist, dass die beiden Zeitreihen über die abgebildeten Zeit sehr stabil sind, sieht man von den beiden Ausnahmeperioden 1930–1941 und 2000–2003 ab. Dabei ist vor allem hervorzuheben, dass der Vollzug in der Periode 1930 bis 1941 wohl anstieg, aber in keinem Verhältnis zu der offensichtlich häufiger eingesetzten Untersuchungshaft steht. Auf einem neuen, tieferem Niveau sind die Verhältnisse seit 1990 extrem stabil.
Für die genauen Daten siehe www.bfs.admin.ch>Kriminalität und Strafrecht>Freiheitsentzug, Strafvollzug.
Zwischen 2011 und 2012 ist die gesamte Insassenzahl von 6065 auf 6599 angestiegen. Dies stellt einen Anstieg von 10% dar, der im Vergleich zu den Vorjahren als extrem hoch angesehen werden muss. Die neuen Daten belegen, dass die neuesten Gefangenenzahlen in allen Haftformen 2012 höher als im Vorjahr sind – mit Ausnahme der anderen Haftgründe. Dies sind einige der neuesten Zahlen, die heute veröffentlicht werden konnten.
Die vom Bundesamt für Statistik veröffentlichten Bestandeszahlen bis 2014 zeigen für die absoluten Daten der Untersuchungshaft nach kontinuierlichen Anstiegen bis 2013 erstmals im Jahr 2014 eine kleine Baisse von 2%. Dasselbe kann für die Vollzugsdaten nicht festgestellt werden, wo die Daten ein stetes Wachstum der verurteilten Gefangenenpopulation ausweisen. Weiter kann belegt werden, dass über die Zeit zwischen 1999 und 2014 die Haftplätze um 11% , die Bevölkerung um 15%, während die Insassenzahlen um 18% zugenommen haben. Lag die Gesamtbelegungsrate der Einrichtungen des Freiheitsentzugs 2013 bei 100%, fiel sie 2014 auf 97% ab. Mit 84 Insassen pro 100’000 Personen der Wohnbevölkerung bleiben die Gefangenenzahlen in der Schweiz im letzten Drittel der Länder Europas. Vergleicht man jedoch die jüngsten Daten mit denjenigen um 1940 oder um 1900 wird die These von der Zurückdrängung des Freiheitsentzugs weiterhin belegt.